Zur Lehre der Kampfkunst

Will man die Kampfkunst studieren, so muss man damit beginnen, sich selbst zu studieren. Dies bedeutet, über sich selbst hinauszugehen. So kann man erkennen, was einen daran hindert, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Es gibt in der wahren Kampfkunst keinen Gegner. Der Gegner ist eine Illusion.

Vielleicht wird man zwanzig Jahre lang üben müssen, um zu verstehen, dass der Gegner eine Illusion ist. Möglicherweise muss man dreißig Jahre lang üben, um dies zu verstehen. Es ist auch denkbar, dass man diese Wahrheit niemals ganz erfasst. Buddhistische Kampfkunst erzieht den Menschen zur klaren Erkenntnis der Wirklichkeit.

Die Übung des Kampfes ist eine Übung des Geistes. Wer durch die Übung der Kampfkunst den Geist geschult hat, wird auch in allen anderen Bereichen seines Lebens mit innerer Stärke und Gelassenheit handeln. So vollendet sich die Kunst im täglichen Tun.

Achtsamkeit, Gelassenheit und Respekt

Ohne die Beachtung der Prinzipien von Achtsamkeit, Gelassenheit und Respekt gibt es keine Fortschritte auf dem Weg der Kampfkunst. Achtsamkeit bedeutet die vollständige Hinwendung zum aktuellen Geschehen. Sie beginnt im formellen Training der Kampfkünste damit, sich vor dem Unterricht in einen Zustand geistiger Sammlung zu versetzen, um die nervösen Routinen des Alltags unmittelbar vor dem Betreten der Übungshalle bewußt loszulassen.

Während des gesamten Unterrichts muss man stets so üben, als befände man sich in einem Kampf auf Leben und Tod. Die Meister wissen, dass dies im Grunde der Wahrheit entspricht, aber die Schüler glauben häufig, eine Übung würde sich von der Anwendung in der Realität durch das Maß der Ernsthaftigkeit unterscheiden. Dies ist im Falle der Kampfkunst ein Irrtum. Kampfkunst üben bedeutet, den Geist zu schulen. Achtsamkeit in der Übung der Kampfkunst bedeutet, sich um hundertprozentige Präsenz zu bemühen. Nicht träumen, nicht grübeln, nicht zögern!

Jeder Übende bemerkt früher oder später, dass ihm Fehler unterlaufen. Das ist eine natürliche Komponente der Kampfkunst. Fehler sind notwendige Elemente im Prozess des Lernens. Man sollte sich natürlich darum bemühen, keine Fehler zu machen. Allerdings wird man sie nie ganz vermeiden können, und deshalb gilt in solchen Fällen Gelassenheit als das oberste Gebot. Korrigiert der Meister die Fehler eines Schülers, will er keine Rechtfertigungen oder Entschuldigungen hören. Das ist ganz und gar unnötig. Alles was der Schüler in einem solchen Falle tun kann, ist gelassen zu akzeptieren, dass er einen Fehler gemacht hat und dem Hinweis des Meisters entsprechend zu handeln. Mehr wird nicht erwartet. Gelassenheit sollte auch in allen anderen Situationen Anwendung finden, die einen Schüler unter normalen Umständen in Aufregung versetzen würden.

In der Übungshalle der Kampfkunst ist für Zorn, Eitelkeit oder Neid kein Platz. All diese Gefühle müssen im Unterricht losgelassen werden. Dies gilt auch für die emotionalen Reaktionen, die sich einstellen können, wenn man bei anderen Zorn, Eitelkeit oder Neid beobachtet. Respekt muss die Grundlage des gemeinsamen Übens sein. Wer nicht in der Lage ist, jeden der Mitübenden zu respektieren, sollte auf das Training verzichten. In der Kampfkunst lernt man vorrangig durch andere und von anderen.

Konzentration, Wille und Vernunft

Bewegt sich der Krieger durch die Dunkelheit, sind alle seine Sinne aktiv – er handelt mit höchster Achtsamkeit. Sollte sich in dieser Situation plötzlich ein Feind auf ihn stürzen, schlägt der Krieger sofort zu – er handelt mit höchster Konzentration.

Während Achtsamkeit üblicherweise eine Entfaltung oder Ausbreitung der Wahrnehmung darstellt, ist unter Konzentration deren Bündelung oder Fokussierung zu verstehen. Konzentration ist immer dann erforderlich, wenn es in einer speziellen Handlung zielgerichteter, punktförmiger Aufmerksamkeit bedarf.

Jeder Schüler der Kampfkünste muss sich in der Fähigkeit der Konzentration üben. Dazu eignen sich verschiedene Übungen. Wichtig ist dabei immer, sich nicht von der Fokussierung des Geistes ablenken zu lassen. Die Fähigkeit der Konzentration ist von großem Vorteil für die Entwicklung eines starken Willens. Übt man sich nämlich darin, seine Willenskraft zu verbessern, so ist es dabei sehr nützlich, in einem Akt der Konzentration alle geistigen Kräfte zu bündeln.

Die Stärkung des Willens ist in den Kampfkünsten von großer Wichtigkeit. Ohne starken Willen kann man auf dem Weg zur Meisterschaft nicht voranschreiten. Deshalb sollte man sich bei jeder Gelegenheit darin üben, einen starken Willen zu entwickeln. Über einen starken Willen zu verfügen bedeutet, nicht vorschnell aufzugeben. Egal was einer tut, der sich in der Kampfkunst übt, es soll sich darin stets der unbedingte Wille ausdrücken. Auch wenn es am Anfang schwerfällt, solch einen Willen zu entwickeln, nach einiger Zeit des Übens wird der starke Wille zu einer ganz natürlichen Eigenschaft der Persönlichkeit.

Die Stärke des Willens muss durch Vernunft gesteuert werden. Ein mächtiger Wille, der sich die falschen Ziele setzt, ist nutzlos oder sogar schädlich. Deshalb muss jeder, der sich in den Kampfkünsten übt, um die Entwicklung und Kultivierung seiner Vernunft bemühen. Vernünftiges Handeln setzt voraus, dass man mit Klarheit sieht, was in der Welt vor sich geht und dass man mit Klarheit sieht, wer man ist. Nur wer die Welt kennt und sich selbst kennt, kann vernünftig handeln. Aus diesem Grunde muss man den klaren Blick sowohl auf die Welt als auch auf sich selbst richten. Nur so kann sich Vernunft entwickeln.

Schüler und Meister

Die Beziehung zwischen Schüler und Meister muss stets von einem tiefen Gefühl gegenseitigen Respekts getragen werden. Es ist ganz natürlich, dass diese Beziehung im Laufe der Zeit gewissen Belastungen ausgesetzt sein wird. Doch solange ein Gefühl des Respekts besteht, können alle Schwierigkeiten überwunden werden.

Schüler zweifeln von Zeit zu Zeit an ihren Meistern. Diese verlieren hin und wieder die Geduld mit ihren Schülern. All das ist ganz natürlich. In jedem Falle sollte man sich stets vor Augen halten, aus welchen Gründen diese Beziehung ursprünglich eingegangen wurde: Der Schüler hatte den Wunsch, zu lernen, und der Meister hatte den Wunsch, zu lehren.

Es ist für einen Schüler unangemessen, sich zu stark in die Nähe des Meisters zu drängen oder eine persönliche Form des Kontakts anzustreben. Die Figur des Meisters bezieht ihre Kraft aus der Tatsache, dass sie nicht zum unmittelbaren Bekannten- oder Freundeskreis gehört und dennoch sehr nahe ist. Diesen Umstand muss der Schüler bedenken.

Der Schüler sollte sich außerdem darin zurückhalten, den Meister mit Fragen zu bestürmen. Eine Möglichkeit des Schülers, persönliche Probleme innerhalb eines angemessenen Rahmens anzusprechen, ist das formelle Gespräch, im Zen-Buddhismus ‚Dokusan‘ genannt.

Falls ein Schüler der Meinung ist, bei seinem Meister nichts mehr lernen zu können und weiterziehen will, so ist es wichtig, dass er bevor er geht, seinen Dank und Respekt auszudrücken. Den Meister ohne diese Geste zu verlassen, stellt eine grobe Verletzung der Beziehung zwischen den beiden dar. Darüber muss sich ein Schüler absolut klar sein.

Überwindung illusionären Denkens

Die Überwindung von Gedanken und Denkweisen, die den Geist in die Irre führen, ist absolut essentiell auf dem Wege der Kampfkunst. Der altchinesische Kampf- und Kriegsstratege Sunzi schreibt in der ‚Kunst des Krieges‘, dass man, um in einer Schlacht den Sieg zu erringen, sowohl den Gegner als auch sich selbst kennen muss. Was verbirgt sich hinter dieser Forderung?

Den Gegner erkennen bedeutet, den Blick auf die Welt zu richten. Egal, ob uns der Gegner als ein schwertschwingender Krieger oder in Form einer anderen zu bestehenden Prüfung gegenübertritt – immer müssen wir uns auch um einen klaren Blick auf die Wirklichkeit da draußen bemühen. Den Gegner wirklich zu erkennen, heißt mit ihm zu verschmelzen. Auf diese Weise transzendiert man den Gegner.

Sich selbst kennen bedeutet, alles an sich selbst zu kennen, was das eigene Handeln beeinflusst. Das heißt auf einer tiefen Ebene auch zu sehen, was den eigenen Geist beeinflusst, auf dem das Handeln basiert. Sich selbst kennen kann deshalb nur derjenige, der sein Denken beobachtet.

Das Ziel dieser Beobachtung des Denkens besteht aber nicht nur darin, das eigene Denken kennenzulernen. Es besteht vor allem darin, das illusionäre Denken zu identifizieren. Hat man das illusionäre Denken identifiziert, kann man es überwinden und zum klaren Denken gelangen.

Das klare Denken – der klare Blick sowohl auf sich selbst als auch auf den Gegner – ist der Schlüssel zum Sieg in jeder Schlacht. Deshalb verwendet der Schüler der Kampfkunst viel Zeit auf die Überwindung des illusionären Denkens. Das illusionäre Denken kann überwunden werden, indem der Übende die von den Meistern entwickelten Methoden nutzt. Diese Methoden werden innerhalb der formellen Unterweisungen vermittelt.

Überwindung zerstörerischer Emotionen

Emotionen, die einem selbst oder anderen Menschen sofort oder in folgenden Handlungen Schaden zufügen, werden zerstörerische Emotionen genannt. Man muss zwar stets den genauen Kontext von Emotionen betrachten, um herauszufinden, ob sie destruktiv sind, aber in einigen Fällen liegt die schädliche Wirkung von bestimmten Gefühlsregungen auf der Hand.

So sind Hass, Gier oder Neid immer destruktive Emotionen, unabhängig davon, in welcher Situation sie auftreten. Jeder Übende, der die Meisterschaft erlangen will, muss solche Emotionen überwinden, denn sie hindern ihn am klaren Blick auf die Wirklichkeit der Dinge.

Betrachten wir die Wirklichkeit, während wir von Hass-Gefühlen beeinflusst werden, können wir die Realität nicht erkennen. Das gleiche gilt für den Einfluss von Gier oder Neid. Solche Empfindungen verzerren den Blick auf die Wirklichkeit. Ein Meister der Kampfkunst zeichnet sich jedoch vor allem dadurch aus, dass sein Blick auf die Wirklichkeit absolut klar ist.

Die Überwindung zerstörerischer Emotionen beginnt damit, sie überwinden zu wollen. Der Vorsatz ist von großer Wichtigkeit. Der zweite Schritt besteht darin, destruktive Emotionen bei sich selbst zu beobachten. Nur wenn wir lernen, destruktive Gefühle an uns selbst wahrzunehmen, können wir sie überwinden. Der dritte Schritt besteht darin, die Wirkung zerstörerischer Gefühle zu begrenzen. Das heißt, man bemüht sich darum, die Dauer solcher Gefühle zu verkürzen. Im letzten Schritt entwickelt man eine so hohe Sensibilität für destruktive Emotionen, dass man ihr Entstehen bereits bemerkt und loslassen kann, bevor es zum eigentlichen Auftreten der Emotion kommt.

Anfänger der Künste messen diesem Teil der Lehre meist nur geringe Bedeutung bei. Aber jedem Schüler sei versichert, dass die Überwindung der zerstörerischen Gefühle von entscheidender Bedeutung für die Erlangung der wahren Meisterschaft in der Kampfkunst ist.

Ausdauerndes Üben

Trägt man sich mit der Absicht, das Studium einer Kampfkunst zu beginnen, sollte man vor dem Fällen der endgültigen Entscheidung eine gewisse, festgelegte Zeit üben. Dabei darf man nicht die geringste Unterbrechung durch Unlust zulassen. Unterbrechung durch Unlust bedeutet, dem Unterricht fernzubleiben, weil man sich nicht motivieren kann. Gibt man der Unlust nach, kann man nicht die Erfahrungen machen, die einen letztlich wissen lassen, ob man die Kampfkunst auch wirklich studieren möchte.

Deshalb sollte man für sich selbst einen festen Zeitraum definieren, um die Kampfkunst kennenzulernen. Diese Zeitspanne sollte mindestens ein viertel Jahr umfassen. Noch besser ist es, von einem halben Jahr auszugehen. Innerhalb dieses Zeitraums sollte der Anfänger versuchen, jedes mögliche Training wahrzunehmen und niemals den Unterricht ausfallen lassen, auch wenn es ihm hin und wieder an Motivation mangelt. Nur auf diese Weise kann er erfahren, ob das Studium der Kampfkunst seiner Persönlichkeit entspricht.

Nach Ablauf der festgelegten Zeitspanne sollte der Anfänger vor sich selbst Rechenschaft ablegen und dabei ganz ehrlich sein. Hat er regelmäßig am Unterricht teilgenommen, ohne Unterbrechung durch Unlust zuzulassen, wird er zu diesem Zeitpunkt mit absoluter Sicherheit wissen, ob die Kampfkunst seiner Persönlichkeit entspricht.

Falls er sich dann dafür entscheidet, den Weg der Kampfkunst zu gehen, wird er daran festhalten, niemals den Unterricht ausfallen zu lassen, auch wenn es ihm ab und zu an der rechten Lust fehlt. Jeder Übende muss verstehen, dass man dem Training nur aus ernsten Gründen fernbleiben darf.
Begreift man dies nicht, dann hat man nicht verstanden, worum es in der Kampfkunst geht: Es geht um die Schulung des Geistes, um die Überwindung des kleinen, egoistischen Ich, das den Menschen schwach macht. Es ist unwichtig, ob das kleine, egoistische Ich Lust darauf hat, einer Schulung unterzogen zu werden. Wichtig ist allein, dass diese Schulung notwendig ist.

Solange ein Schüler nicht begriffen hat, dass sein Üben vom Gefühl der Lust oder Unlust ganz und gar unabhängig sein muss, kann er nicht zum Kern der Kunst vordringen. Solange wird er von der Meisterschaft der Kunst weit entfernt bleiben.

Meditation

Meditation ist auf dem Weg der Kampfkunst eine wichtige Methode der geistigen Schulung. Das Ziel der Übung besteht darin, die Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt zu stärken. Meditation bedeutet, den Geist zum gegenwärtigen Augenblick zu führen, sich nicht von Emotionen oder Gedanken ablenken zu lassen.

Jeder Übende sollte von einem Lehrer in die Technik der Meditation eingewiesen werden. Wird die grundlegende Technik des Sitzens und Atmens beherrscht, sollte der Schüler nach Möglichkeit jeden Tag üben. Jeden Tag zehn Minuten Meditation zu üben ist besser, als überhaupt nicht zu üben.

Der Nutzen kontinuierlicher Meditationspraxis ist beachtlich – er zeigt sich in nahezu allen Bereichen des Lebens. Meditation hilft dabei, die eigenen Gedanken und Gefühle klarer wahrzunehmen. Es wird auch leichter, störende Bewusstseinszustände, beispielsweise destruktive Gefühle und negative Stimmungen, loszulassen.

Wichtig ist, kontinuierlich zu üben. Es hat kaum Sinn, nur einmal in der Woche zu meditieren, weil der Effekt auf den Geist zu gering ist. Tägliches Üben hingegen zeigt sehr schnell positive Effekte. Diese sind besonders in der Übung der Kampfkunst zu spüren.

So kann sich ein Schüler, der in der Meditation geübt ist, besser auf den Unterricht konzentrieren und störende Gedanken leichter loslassen. Das ist für die Übung der Kampfkunst außerordentlich wertvoll.